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Lara Oberdieck über ihre Informationskampagne für Erstwählende

Veröffentlicht am: 10.06.2024

Lara Oberdieck von der Stadt Krefeld hat das Bildungsprogramm für Krefelds Erstwählende konzipiert und organisiert. Bild: Stadt Krefeld, Presse und Kommunikation
Lara Oberdieck von der Stadt Krefeld hat das Bildungsprogramm für Krefelds Erstwählende konzipiert und organisiert.
Bild: Stadt Krefeld, Presse und Kommunikation

"Ich habe keinen Jugendlichen getroffen, der die Demokratie ablehnt"

Bei der Wahl zum EU-Parlament am 9. Juni durfte in Deutschland erstmals auch schon ab 16 Jahren teilgenommen werden. Die Stadt Krefeld hat den Wahlkampf daher mit einer breit angelegten Informations- und Aufklärungskampagne begleitet. Sie zielte auf die Demokratisierung der Krefelder Erstwählenden ab und sollte ihnen einen umfassenden Überblick über Strukturen und Prozesse innerhalb der Europäischen Union bereiten. Konzipiert hat dieses jugendpolitische Bildungsprogramm Lara Oberdieck vom städtischen Fachbereich Jugendhilfe und Beschäftigungsförderung. Seit Anfang April begleitete sie viele Hunderte Jugendliche bei unterschiedlichen Formaten, wie zum Beispiel Schulprojekten für Erstwählende, verschiedenen Podiumsdiskussionen oder einer politischen Reise nach Brüssel. Im Interview spricht sie über ihre Beobachtungen in den vergangenen zwei Monaten und wünscht sich mehr politische Teilhabe für junge Menschen.

Hinter Ihnen liegen über sechs Wochen jugendpolitische Bildungsarbeit zur EU-Wahl. Wie steht es um das Demokratie- und EU-Verständnis bei Krefelds Jugendlichen?

Lara Oberdieck: Der Großteil der Jugendlichen ist meines Erachtens politisch sehr interessiert. Sie erkennen das Privileg, mit 16 Jahren wählen zu dürfen und nehmen das durchaus ernst. Teilweise haben mich das Interesse und das Vorwissen einiger Jugendlicher sehr positiv überrascht. Bei einigen Erstwählenden ist aber auch deutlich geworden, dass bisher wenig bis gar nicht über die Europäische Union gesprochen wurde - weder zu Hause noch in der Schule. Generell positionieren sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen klar und deutlich zu verschiedenen Themen. Sie sind einerseits politisch sehr links, andererseits aber auch konservativer als erwartet. Ich bin jedoch nicht auf einen einzigen Jugendlichen getroffen, der die Demokratie ablehnt oder sich gar eine Diktatur wünscht.

Haben Sie auch eine allgemeine Frustration oder Abkehr von der Politik beobachtet?

Oberdieck: Vielen Jugendlichen ist gar nicht bewusst, was alles politische Themen sind, an welchen Stellen sie auch selbst politisch sprechen oder agieren. Ihnen ist nicht klar, wie sie von Politik betroffen sind und vor allem nicht, welchen Einfluss sie mit ihrem Verhalten auf Politik haben können. Das führt dann auch schon mal zu Enttäuschungen. Darum gehen sie häufig mit negativen Erwartungen an diese Themen. Sie haben selbst in ihrem Leben bisher wenig politische Selbstwirksamkeit erfahren können. Jungen Menschen muss daher einfach mehr ermöglicht werden, Demokratie selbst zu erfahren, niedrigschwellig und in all ihren Lebensbereichen.

Für Sie als städtische Fachkraft für politische Bildung war diese Informationskampagne eine Premiere. Was hat Sie bei den potenziellen Erstwählenden am meisten überrascht?

Oberdieck: Grundsätzlich bin ich mit der Einstellung in das Projekt gestartet, dass wenig bis kaum Vorwissen zum Thema EU besteht. Die EU ist einfach weit weg, politisch sehr abstrakt und wird ohnehin häufig stiefmütterlich behandelt. Auch ich musste für die Ausarbeitung des Bildungsmaterials noch einiges recherchieren, obwohl ich mich sehr für dieses Thema interessiere. Deswegen hat mich das Vorwissen einiger Jugendlicher sehr überrascht.

Inwieweit kommt die Europäische Union in den Lebensrealitäten der 16- bis 18-Jährigen überhaupt vor?

Oberdieck: Die EU und ihre Entscheidungen betreffen das Leben der Jugendlichen direkt. Das merken sie beispielsweise, wenn sie in den Urlaub fahren und an den EU-Grenzen nicht kontrolliert werden, keine Roaming-Gebühren fürs Handy bezahlen und kein Geld wechseln müssen. Die meisten Jugendlichen waren auch schon in Nicht-EU-Ländern und kennen daher ganz genau den Unterschied und vor allem die Vorteile. Solche Tatsachen sind den jungen Menschen häufig dennoch nicht als Errungenschaft der EU bewusst, da sie diese nicht anders kennen.

Einen Großteil der Informationskampagne bildeten Schulprojekte, ein direkter Austausch mit Krefelder Oberstufenschülern. Welchen Effekt haben Sie im Laufe der Veranstaltung bei den Teilnehmenden beobachten können?

Oberdieck: Zu Beginn jeder Veranstaltung haben wir den Jugendlichen Aussagen zu ihrem Wissensstand oder ihrer Wahlbereitschaft vorgelesen, zu denen sie sich mit einem Daumen hoch oder runter positionieren sollten. Die Rückmeldung ist dabei immer durchwachsen. Einige kennen sich gut aus, andere gar nicht. Am Ende der Veranstaltung haben wir dann noch einmal ähnlich nachgehakt. Das wirklich positive Resultat: Die absolute Mehrheit der Jugendlichen fühlte sich anschließend besser auf die Europawahl vorbereitet. Hinzu haben wir die Rückmeldung bekommen, dass nach unseren Veranstaltungen mehr Jugendliche wählen gehen wollten als davor. Ich habe also schon den Eindruck, dass wir einige junge Menschen erreicht haben und viel über die Europäische Union aufklären konnten - auch über Demokratie allgemein und das Privileg, in einer solchen zu leben.

Sie haben Jugendlichen auf einer politischen Reise nach Brüssel, auf Speed-Debating-Formaten und Podiumsdiskussionen begleitet. Welche Rückmeldungen haben Sie dabei bekommen?

Oberdieck: Die Rückmeldungen zu allen Formaten waren durchweg positiv, sowohl von Seiten der Politik als auch von Lehr- und Fachkräften und besonders von den Jugendlichen. Sie sind froh, dass für sie angemessene Formate organisiert wurden und waren häufig selbst positiv überrascht, auf Augenhöhe mit der Politik sprechen zu können. Auch die Brüssel-Reise kam bei allen gut an. Gerade der Besuch im EU-Parlament, im Parlamentarium und das anschließende Planspiel, in dem die Jugendlichen selbst in die Rolle von EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentariern schlüpfen konnten, haben bleibenden Eindruck hinterlassen. Beim Planspiel war es spannend zu beobachten, wie unsicher sie zu Beginn waren, sich plötzlich mit einem Thema wie der europäischen Wasserversorgung befassen zu müssen. Und wie sie im Laufe der Simulation immer mehr aufgetaut sind und sich mehr getraut haben, in ihre Position hineingewachsen sind und politische Debatten geführt haben. Ein Jugendlicher kam im Anschluss sogar auf mich zu und sagte: „Ich glaube, ich habe meine Berufung gefunden." Ob er tatsächlich in die Politik geht, bleibt abzuwarten, aber offensichtlich haben wir etwas in ihm ausgelöst.

Welche jugendpolitischen Bildungsangebote gibt die Stadt den Krefelder jungen Menschen fernab einer großen Wahl?

Oberdieck: Politische Bildung und Beteiligung finden das ganze Jahr über in den Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Krefeld statt. Junge Menschen lernen demokratische Strukturen, indem sie ihre Ideen einbringen und aktiv mitgestalten. Zum Beispiel können in dem Sommerferienangebot „Crefeldia" Kinder und Jugendliche ihre eigene Stadt entwickeln. Es wird ein Stadtoberhaupt gewählt und die Regeln der Gesellschaft entwickeln die Kinder und Jugendlichen selbst. Die Erwachsenen agieren in diesem Setting nur als Unterstützende. Außerdem gibt es den städtischen Jugendbeirat als politisches Gremium und politische Vertretung von Jugendlichen in Krefeld. Er engagiert sich in verschiedenen Ausschüssen und Gremien der Stadt und organisiert über das ganze Jahr verteilt eigene Projekte sowie Veranstaltungen.